shining


Dass es im Umgang mit den Dingen nicht nur auf die Objekte selbst ankommt, sondern auch auf das, was sie räumlich trennt, was sich zwischen ihnen abspielt, bekommen Kinder schon sehr früh mit. Beispielsweise, wenn sie im Kindergarten das Lied „Was müssen das für Bäume sein?“ lernen. „Rechts sind Bäume, links sind Bäume / und dazwischen Zwischenräume“, heißt es dort wunderbar einprägsam. Diese Zwischenräume, von der Wahrnehmung meist vernachlässigt, weil sie unscheinbar sind und allenfalls als Lücke in Betracht kommen, sie sind es, die in Rolf Sellmanns 2017 begonnener Serie „shining“ eine zentrale Rolle spielen.

Wie das? Der Künstler, ohnehin ein Farben-Fan, der Kandinskys Schlüsselwerk „Das bunte Leben“ (1907) in zeitgenössischer Ausprägung zu neuer Dynamik erweckt, entdeckte mehr oder weniger per Zufall den verblüffenden Leuchteffekt der Neonfarben. Wikipedia definiert sie als „Farbmittel mit abnorm hoher Farbsättigung und Buntheit“. Wenn diese Signalfarben derart viel Power haben, entfalten sie ihre Wirkung dann auch, wenn sie an unscheinbaren Orten zum Einsatz kommen? Beispielsweise auf den Rändern oder gar Rückseiten eines Bildträgers? Das war der Ausgangspunkt für eine faszinierende Versuchsanordnung: Sellmann bemalte die abseitigen Zonen mit Neon-Orange und beobachtete Erstaunliches: „Das Licht – egal ob Kunst- oder Tageslicht – lässt die Neonfarbe so leuchten, dass es einen ‚Corona-Effekt‘ um die Stellen gibt, an denen die Farbe aufgetragen worden ist. Das heißt, dass die Reflexion der Farbe einen Farbschein auf die Umgebung abgibt.“

Die Zwischenräume sind es also, die in der „shining“-Serie ins Zentrum der Betrachtung rücken. Dabei gibt es verschiedene Varianten:

zum einen eine Installation aus 30 kleinen, mit preußischblauer Ölfarbe dick bespachtelten Leinwänden („crossings and surroundings“), zum anderen ein schlichter weißer Holzring, der rückseitig und auf der Innenkante bemalt ist sowie - etwas komplexer - ein Ensemble aus einer weißen U-Profilleiste, einem weißen Holzring, der in circa 1 cm Entfernung von der Wand angebracht ist, und der ebenfalls weiß getünchten Rückseite einer Bilderleiste („in Anlehnung 1“) und schließlich noch Papierarbeiten, bei denen vier Einzelblätter in verschiedenen Kombinationen die Vielfalt der Neoneffekte vor Augen führen („Paris shining 1-3“).

Rolf Sellmann knüpft hier an die Tradition der Op Art der sechziger Jahre an und entwickelt sie weiter: Fasziniert von den physikalischen Gesetzen des Lichts und der Optik, verschrieben sich damals Künstler wie François Morellet, Bridget Riley oder Victor Vasarely der Untersuchung visueller Phänomene und loteten die Täuschungsmöglichkeiten des Auges aus. Ein weites Feld, das längst nicht erschöpfend bearbeitet ist. Sellmanns „shining“-Werkgruppe stellt es unter Beweis: Sie ist subtil und spielerisch, sie bringt die Farbe in Bewegung, und nicht zuletzt appelliert sie an den Betrachter, seinen Standpunkt zu ändern. Nur so kann er das muntere Treiben der Neonfarbe in allen Facetten verfolgen, nur so den Überlagerungen, den Schattierungen und den „weißen Flecken“ im „Kreuzungsbereich“ auf die Schliche kommen. „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“, hat Joseph Beuys gesagt. Vielleicht darf man dieses Zitat abwandeln und auf Sellmanns „shining“-Serie münzen: „Die Mysterien finden im Zwischenraum statt.“

  • crossings and surroundings; 2017; ca. 2 x 3 m; MT auf LW
    crossings and surroundings
  • in Anlehnung 1; 2017; ca. 230 x 140 x 10 cm; Acryl auf Holz und Kunststoff
    in Anlehnung 1
  • Paris shining 2; 2017; 70 x 50 cm (im Rahmen)
    Paris shining 2
  • ; 2016; Durchmesser: ca. 35 cm; Acryl auf Holz
    circle 1